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Veranstaltungsort: Zumtobel Staff LICHTFORUM Wien
Ausstellung: 12. Dezember 1997 - 16. Jänner 1998
Eröffnung: Donnerstag, 11. Dezember 1997, 20 Uhr
Frank O.Gehry's Entwurf für die DG BANK am Pariser Platz in Berlin
Die Mineralogie kennt Kristalle, deren innere Struktur ihrem äußeren Bau widerspricht. Sie entstehen dadurch, dass Kristalle in Gesteinsschichten eingeschlossen sind und von Wasser ausgewaschen werden. Wenn in diese Hohlformen dann vulkanische Massen einströmen und wiederum kristallisieren, nehmen diese neuen Kristalle die Erscheinungsweise älterer, fremder Gesteinsarten an, so dass Mineralogen von "Pseudomorphose" sprechen.
Den Begriff der Pseudomorphose hatte der Kulturphilosoph Oswald Spengler 1922 auf die Geschichte übertragen und damit historische Umbrüche beschrieben, in denen "eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, dass eine junge, die hier zuhause ist, nicht zu Atem kommt und ... zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdruckformen ... gelangt." In diesen Fällen müsse sich die neue Kultur, so Spengler, in die "Hohlformen des fremden Lebens" ergießen und ihre jungen Gefühle vorübergehend "in ältlichen Werken erstarren" lassen.
Spengler meinte damit historische Umbrüche wie den Aufstieg der jungen arabischen über die uralte babylonische Kultur oder auch den Siegeszug des Christentums über die Antike. Bis hinein in die Architekturgeschichte beschrieb er den Formenwandel mit diesem Begriff und sah beispielsweise christliche Basiliken als "Pseudomorphosen" antiker Tempel, indem die Kirche nichts anderes sei als ein umgestülpter Tempel, dessen umlaufende Säulenreihen im Laufe von Jahrhunderten nach innen gekehrt und deren geschlossene Cella zugleich nach außen verlegt wurde.
Als Frank O. Gehry sich vor einiger Zeit darüber beschwerte, dass man ihn in Berlin zwinge, so langweilig wie nie zuvor in seinem Leben zu bauen, fiel mir unwillkürlich Spenglers mineralogischer Kulturvergleich ein, nach dem eine "fremde alte Kultur" einer aufstrebenden neuen Kultur den Atem nimmt und sie in erstarrte Hohlformen zwingt. War am Pariser Platz, 75 Jahre nach Spengler, noch einmal das grandiose Schauspiel einer "historischen Pseudomorphose" zu beobachten, aus der - unter günstigen Umständen - wieder so grandiose Mischformen wie einst die Tempelkirche oder die Kuppelbasilika hervorgehen könnten?
Im Rahmen der Gestaltungssatzung des Pariser Platzes mit ihren Proportions-, Material- und öffnungsvorschriften musste Gehry seinen Entwurf in die Hohlform eines alten Blockes mit geschlossener Strassenflucht gießen. Dadurch war er gezwungen, die ausdrucksvolle bauplastische Gebärdensprache seiner Gebäudehüllen radikal umzustülpen und nach innen zu verlegen. Nach außen dringt von Gehrys Baugedanken nichts durch, auch wenn er die steinerne Platzfront mit ihren klugen, wintergartenähnlichen Balkons und gläsernen Brüstungen so grosszügig wie möglich geöffnet hat. Auf der südlichen Rückseite hat er einen neungeschossigen Anhänger mit Wohnungen angebracht, der ebenfalls keine Ahnung vom Innenleben vermittelt.
Im Gebäude passiert dreierlei: Einmal setzt Gehry die Fassadenordnung rings um das längsrechteckige Atrium innen in voller Geschosshöhe fort. Diese Kontinuität einer von außen nach innen fortgeführten Struktur zählt zu den bewährtesten Kunstgriffen der historischen Architektur. Sie öffnet Baukörper auf der fundamentalen haptischen Ebene von einer Form- und Materialkonstanz; zudem wertet diese Durchdringung vormals hierarchische Raumbezüge in gleichwertige Sequenzen auf. Mit diesem Motiv hatte beispielsweise ein Paul Wallot gearbeitet und mit dem von außen nach innen durchlaufenden Sandstein seinem Reichstag jene von den Zeitgenossen so bewunderte Opulenz verliehen.
Innerhalb dieser inversen Fassade entfaltet sich Gehrys geballte Pseudomorphose, die westamerikanischer Bauplastik in europäische Stadtbaumuster gießt, und das gleich auf doppelte Weise. Innen entfaltet sich zunächst einmal eine konvex-konkave Glasvitrine, deren Unterseite die Erdgeschoss- und deren Oberseite die Dachüberdeckung bildet. Diese flexible Rahmenkonstruktion in Form eines ondulierten Tonnendaches verlässt die herkömmliche Statik von Stütze und Last und wird zu einer Fläche mit dreidimensionalem Volumen. Hier erweitert sich die konventionelle Beziehung von Figur und Grund in einen dritten Zustand, der als Faltung keine abrupten Grenzen mehr kennt, sondern plastische Ubergänge zwischen den Raumdimensionen bildet.
Gehrys bisherige Entwürfe bestanden zumeist aus der völligen Verwirbelung von Grundriss und Aufriss; die Pläne ließen nie erkennen, ob man das Gebäude von oben, von der Seite oder im Querschnitt sah. Diesen Spuk von Simultanperspektiven und Volumendurchdringungen hatten erstmals die Kubisten seit Braque und Picasso ins Werk gesetzt, und bei Gehry wurden sie begehbar. Jetzt treibt Gehrys Berliner Pseudomorphose diesen Ansatz weiter: Statt mit den Mitteln von Collage und Dekomposition die Zeit zu verräumlichen, indem aus einem Nacheinander ein Nebeneinander wird, also statt eine Addition schockgefrorener Stilleben in Form zersplitterter Baukörper zu entwerfen, geht Gehrys biomorphe Gestaltung für die DG BANK den umgekehrten Weg: Sie versucht, den Raum zu verzeitlichen und die fixen Aggregatzustände der drei Dimensionen zu verflüssigen. Um es mit einer filmische Analogie auszudrücken: Es werden nicht verschiedene Raumszenen hart geschnitten und zusammenmontiert, sondern Bewegungsfolgen, deren Langsamkeit - man denke an Pflanzenwachstum - sich dem Augenschein entzieht, per Zeitraffer in eine kontinuierliche Formwerdung gebracht.
Das dritte Ereignis, der zentrale Blickfang, ist die begehbare Grossskulptur des Konferenzzentrums mit 100 Plätzen. Hier erweitert Gehry diese Raumverflüssigung noch, indem er das hinzukommende Element des Grundrisses, das in der traditionellen Architektur stets dominierender Bezugspunkt ist, durch extreme Modulation der raumdefinierenden Begrenzungen in eine neue Äquivalenz mit Wand und Decke bringt. Die silbrig schimmernde Haut des Konferenzsaales weckt Analogien zu geborstenen Düsentriebwerken, Ritterrüstungen oder einem menschlichen Torso.
Biologen dagegen werden hier eher an belebte Körper denken, deren Größe und Gestalt abhängig ist von den sich zeitlich verändernden Strömungen, Bewegungen und Druckverhältnissen der Lebensvorgänge. Da die geometrische Beschreibung solcher instabilen und deformierten Gewebestrukturen unmöglich ist, greifen die Forscher zu Zufallsanalysen und Wahrscheinlichkeitstheorien. Um die flexiblen Querschnittsflächen beispielsweise von Muskelfasern zu bestimmen,werden sogenannte "Zufallsschnitte der Wahrscheinlichkeitsgeometrie" errechnet, die es ermöglichen, Zustände völliger Formlosigkeit zu beschreiben.
Bei Gehry entfaltet diese inexakte, formlose Zufallsbildung eine weitere Eigenschaft: Sie ist ein absolutes Unikat, das von den Holz- oder Papiermodellen mit Hilfe eines elektronischen Stiftes abgetastet und in digitale Computermodelle verwandelt wird. Die Handarbeit des Entwurfs geht somit fast ohne Ubertragungsverluste in das Bauwerk auf. Es ist eine totale Mimesis, die restlos auf körperlicher Einfühlung basiert und durch rechnerisch-konstruktive Abstraktion kaum hervorzubringen ist. Dem Bauwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit haben Gehrys biomorphe Gestaltungen noch einmal Authentizität und Einmaligkeit, ja eine ferne Ahnung von Aura, verliehen.
Durch seine Biologismen, Tiermetapher und Bewegungsvorlieben hat sich Gehrys Architektur zwar von der klassischen Anthropometrie verabschiedet, aber keinesfalls von der anthropomorphen Ästhetik. Denn er baut radikal empirisch. Seine Räume sind unmittelbar wahrnehmungs bezogen. Die nur auf dem Papier erlebbaren Abstraktionen von rechten Winkeln und Spiegelsymmetrien setzt er erst gar nicht in Holz, Blech und Stein um. Man muss sich wundern, dass diese subjektzentrierte, phänomenologische Weltsicht nicht öfters in Architektur umgesetzt wird, da die perspektivischen Verzerrungen unseres Sehapparates jede noch so idealgeometrische Raumetüde zum expressionistischen Bühnenbild machen. Der Mensch sieht perspektivisch, aber er denkt orthogonal; er denkt an Quadrate, aber vermag in Wirklichkeit meist nur ein verzerrtes Trapez oder eine Raute zu erblicken.
Wie steht es nun mit Gehrys "historischer Pseudomorphose" im Spenglerschen Sinne? Man kann Gehry weder als jung noch als Vorboten einer neuen Frühkultur bezeichnen. Er ist vielmehr ein betagter Vertreter jener Leichtbau-Tradition und asymmetrischen Modul-Ästhetik, die im pazifischen Raum von Westamerika bis Japan verbreitet ist. Auch machen seine neuesten europäischen Erfolge von Bilbao über Bad Oeynhausen bis Prag nicht den Eindruck, als müsse Gehry sich ohnmächtig gegen eine erdrückende Altkultur auflehnen und ästhetische Fremdanleihen machen.
Gleichwohl hat es in Berlin einen heftigen Zusammenprall zweier gegensätzlicher Bau- und Planungskulturen - zwischen dem kalifornischen Adhocismus und dem europäischen Masterplan - gegeben. Das Ergebnis ist kein verkrampfter Kompromissbau wie bei den übrigen Platzwänden am Brandenburger Tor, sondern eine wahre Verschmelzung divergenter Ansprüche. Aus dem ungeheuren Druck der baulichen Beschränkungen und öffentlicher Erwartungen in Berlin ist eine bis zum Zerreißen gespannte Pseudomorphose entstanden, die in keinem Moment den Prozess ihrer schwierigen Entstehung verleugnet und deshalb jenes ungeheure Maß an Identität mit sich selbst besitzt.
© Michael Mönninger, Aedes Architekturforum Berlin
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