|
|
82 Seiten, ca. 40 S/W, Deutsch Architekturzentrum Wien, 2003, Wien Herausgeber: Architekturzentrum Wien
Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal gehören zu den wichtigen Repräsentanten der vielfältigen und spannenden zeitgenössischen französischen Architekturszene und eröffnen eine neue Position in der internationalen Architekturdebatte. Sie schaffen mit hoher ökonomischer und sozialer Verantwortung atmosphärisch dichte, menschliche Räume. Das Architekturzentrum Wien wurde schon früh auf ihre Arbeiten aufmerksam und ließ sich von den beiden Architekten den "schönsten Ort im Museumsquartier" (NZZ), die Cafeteria UNA gestalten. Lacaton & Vassal sind die wahrscheinlich radikalsten Architekten unserer Zeit. Ihre Radikalität ist nicht von der Erfindung neuer Formen getrieben, sondern von der permanenten Frage nach dem adäquaten Einsatz materieller Mittel zur Erreichung optimaler Atmosphären. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sie bei jeder Bauaufgabe, vom einfachen, billigen Einfamilienhaus bis zum Luxushotel immer das reichste räumliche Angebot als Ziel im Auge behalten. Dabei befreien sie sich auf eine grundsätzliche Art und Weise von allen herkömmlichen Bildern und Vorstellungen und versuchen ständig, die geübten Konventionen zu hinterfragen. Es ist in einer Zeit, in der Architektur vor allem als Produzent von spektakulären Bildern gesehen wird geradezu provokativ, wenn die Verweigerung dieser Bilder als Lösung propagiert wird. Lacaton & Vassal wurden 2000 zum französischen Beitrag der Architekturbiennale in Venedig eingeladen. Diese hatte das Motto "Less esthetics – more ethics". Lacaton & Vassal wollten für das Budget des Beitrags Wasserpumpen für Afrika ankaufen und dies im Beitrag nur dokumentieren. Das war für die Verantwortlichen zuviel "ethics" – der Beitrag wurde abgesagt.
Ebenso radikal wie ihre architektonische Position ist auch ihre Arbeitsmethode. Nichts wird zeichnerisch erfasst: Skizzen könnten sie selbst und später einmal die Bauherren dazu zwingen, an ersten Bildern festzuhalten. Sie arbeiten auch nicht mit Modellen, da diese den Blick von außen erzwingen und zu skulpturalen Lösungen animieren könnten. Vielmehr erweitern sie ständig ihre Arbeitsmethoden, forschen nach neuen Techniken und Wegen für die jeweils gestellten Projektanforderungen. Sie verbringen nach intensiver Recherche viel Zeit an dem zu bebauenden Ort und oft kommen die Lösungen, nach vielen Gesprächen und Überlegungen aus ganz anderen Anwendungsgebieten. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Verwendung des Gewächshausprinzips, das zur Schaffung kontrollierter klimatischer Bedingungen in der Pflanzenzucht eingesetzt wird, für die Realisierung von atmosphärischen Zwischenzonen beim Wohnungsbau. Das Material wird von den beiden Architekten nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten oder kostenrelevanten Prämissen ausgesucht. Aufgrund der Anforderungen eines Entwurfes werden die Eigenschaften verschiedener Materialien mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit herkömmlicher Bauweisen bis ins Detail untersucht und anschließend nach logischen technischen Aspekten eingesetzt. Wie z.B. Polycarbonatplatten, die durch ihre Semitransparenz mehr Möglichkeiten bieten als herkömmliche Glasscheiben. Oder wie die Außenverkleidung aus gewelltem Aluminium beim Haus in Cap Ferret: Durch die gewählte Ausrichtung der Wellen wird das einfallende Licht auf der Unterseite des Hauses reflektiert und erhellt den offenen Raum darunter, sodass man sich nicht unterhalb eines ‚schwarzen Kastens‘ befindet. In ihren Bauten entsteht so eine extrem präzise Ästhetik, da nichts zufällig oder überflüssig ist. Vieles in der Arbeitsweise von Anne Lacaton & Jean Philippe Vassal erklärt sich durch die prägenden Erfahrungen der beiden in Afrika. Die ewige Weite, das Nichts und schließlich das permanent vorhandene Fernweh begründen die Verweigerung von einschränkenden Mauern und die fortwährende Schaffung panoramischer Ausblicke in ihren Entwürfen. Die Durchwandelbarkeit aneinandergefügter Räume ist der Raumnutzung der Nomaden entlehnt, die durch das ständige Verlassen eines Ortes immer wieder andere Umgebungen vorfinden. Auch ihr Sinn für das Wesentliche schärfte sich in Afrika, wo Bescheidenheit, Armut, das Nichts, aus dem man alles machen kann, die große Bereitschaft zur Flexibilität und Adaption und schließlich die unprätentiöse Haltung wichtiger Bestandteil des täglichen Überlebens sind.
Fragt man Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal nach ihren architektonischen Vorbildern, so antworten sie nur zögernd, da sie nicht unbedingt kategorisiert werden wollen. Sie gestehen aber gerne ein, dass die Ursprünge der Moderne auf sie weit mehr Faszination ausüben, als zeitgenössische Beispiele.
Könnte es sein, dass die Star-Architektur der letzen zwanzig Jahre dazu führte, dass nun aufgrund einer dadurch geförderten allgemeinen Breite nie geahnter architektonischer Spektakularität die Avantgarde wieder zurückkehrt zur intelligenten Strategie unsichtbarer, aber viel besserer Architektur? Dann sind Lacaton & Vassal sicherlich die radikalsten Botschafter dafür. Dietmar Steiner
|
|
|
|
© Az W
|
|
|