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Dieses Buch erscheint anlässlich der Ausstellung „Sowjetmoderne 1955–1991. Unbekannte Geschichten"
07.11.2012 bis 25.02.2013 im Architekturzentrum Wien
Herausgegeben vom Architekturzentrum Wien
Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair, Dietmar Steiner, Alexandra Wachter
2012 Architekturzentrum Wien und Park Books, Zürich
Deutsche Ausgabe: ISBN 978-3-906027-13-5
Das vorliegende Buch verschiebt die von Russland geprägte Perspektive und setzt die Architektur aller anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ins Zentrum der Betrachtung. Demnach war es uns bei der Zusammenstellung der Essays ein großes Anliegen, zu jedem Land den Beitrag lokaler ExpertInnen zu präsentieren. Das Ergebnis ist eine heterogene Sammlung von Analysen, Rückblicken und Fallstudien, bei denen die persönliche Erfahrung dieser Zeit mitschwingt und anderen, die das Thema mit Distanz betrachten. Texte der »jungen Generation«, die mitunter unbelasteter an das Erbe herantritt, stehen neben Texten, denen noch der Duktus des sowjetischen Systems anhaftet. Als wichtige Ergänzung zu den Essays über die regionalen Entwicklungen und Besonderheiten geben die Beiträge von Elke Beyer und Philipp Meuser Einblicke in den sowjetischen Städtebaudiskurs sowie den seriellen Massenwohnbau und die damit verbundene zentralistische Organisation von Architektur und Bauwesen.
Inhaltsverzeichnis
6 Sowjetmoderne 1955–1991
Vorwort
Dietmar Steiner
9 Unbekannte Geschichten
Einleitung
Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair, Alexandra Wachter
12 Die Sowjetunion und ihre Nationen
Andreas Kappeler
––––––––––
16 Das Baltikum
Über das Baltikum
32 Baltische Modernismen
Mart Kalm, Estland
46 Die Architektinnen
Maija Rudovska, Iliana Veinberga, Lettland
54 Die Erfindung eines sowjetischen Rituals: Bestattungsinstitute in Litauen
Marija Drėmaitė, Vaidas Petrulis, Litauen
60 Osteuropa
62 Das Fehlen von Tradition als Tradition
Anatolie Gordeev, Moldawien
Über die Ukraine
80 »Ein wissenschaftlich begründetes künstlerisches Bewusstsein«
Kunst und Architektur in der Ukraine der späten Sowjetzeit. Eine Fallstudie
Oleksiy Radynski, Ukraine
Über Weißrussland
96 Die Architektur der BSSR: Die Textur des Standardisierten
Dimitrij Zadorin, Weißrussland
110 Kaukasus
Über Armenien
116 Architektur der paradoxen Verschiebungen
Ruben Arewschatjan, Armenien
Über Aserbaidschan
140 »Bakuer Moderne«
Rasim Äliyev, Aserbaidschan
Über Georgien
152 »Jedermanns Liebling«
Rusudan Mirzikaschwili, Georgien
166 Zentralasien
Über Kasachstan und Kirgistan
178 Das Gespenst einer Gartenstadt
Yuliya Sorokina, Kasachstan
192 Ein kurzlebiges Revival
Gamal Bokonbaev, Kirgistan
Über Usbekistan
214 Der Bau des »Lebendigen Ostens«
Boris Chukhovich, Usbekistan
Über Tadschikistan und Turkmenistan
238 Am Rand des Imperiums
Rustam Mukimow, Tadschikistan
246 Homo liber. Abdullah Achmedow in Aschgabat
Ruslan Muradow, Turkmenistan
––––––––––
256 »Die Sowjetunion ist eine gewaltige Baustelle«
Elke Beyer
272 Serieller Wohnungsbau in der Sowjetunion
Eine architekturhistorische Annäherung
Philipp Meuser
284 Ein kreativer Salto mortale
Interview mit Felix Nowikow von Wladimir Belogolowski
––––––––––
294 Biografien
296 Literaturverzeichnis
299 Namensverzeichnis
302 Gesamtkarte der UdSSR
304 Bildnachweis
305 Archiv
306 Bildnachweis
Vorwort
Dietmar Steiner
Während der Konstruktivismus und die stalinistische Architektur von der westlichen Architekturgeschichte weitgehend wahrgenommen wurden, ist die Architektur der Sowjetunion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch unbekannt und beschränkt sich auf das Klischee endlos trister Plattenbauten und trostlos leerer öffentlicher Räume. Das Forschungsprojekt Sowjetmoderne untersucht erstmals umfassend die Architektur der 14 ehemaligen Sowjetrepubliken – Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Lettland, Litauen, Moldawien, Kasachstan, Kirgistan, Ukraine, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Weißrussland –, die während der späten 1950er Jahre bis zum Ende der UdSSR im Jahr 1991 entstand. Wir verabschieden uns dabei von der Vorstellung einer gesichtslos uniformen Sowjetarchitektur, suchen die regionalen Besonderheiten, die jeweils speziellen Entstehungsprozessen unterworfen sind, und entdecken bislang unbekannte Architekturen, die sich auf Augenhöhe mit vergleichbaren Werken der westlichen Welt befinden.
Wir haben uns bei dieser mehrjährigen Forschungsarbeit auf die damaligen Republiken der Sowjetunion konzentriert, die heute selbstständige Staaten sind, und dabei bewusst Russland ausgespart. Einerseits, weil die zusätzliche Bearbeitung und Analyse der Architektur Russlands dieser Periode unsere Kapazität überstiegen hätte, andererseits, weil wir den Wurzeln der »lokalen Modernen« nachspüren wollten, die sich in den Sowjetrepubliken formiert hatten. Dies entspricht auch dem Stand der internationalen Architekturgeschichtsforschung. Die Geschichte der Moderne des 20. Jahrhunderts ist inzwischen im Westen unter ihren jeweils lokalen Bedingungen erforscht worden, obwohl sie sich als »International Style«, als globale Ideengeschichte verbreitete.
Allgemein bekannt ist, dass mit dem Ende des Stalinismus, mit Beginn der Ära Chruschtschow eine Modernisierung der kommunistischen Architektur begann, die sich dann unter Breschnew auch ästhetisch und konzeptionell öffnete. Aber sehen wir uns diese Entwicklung etwas genauer an. Mit der Machtübernahme nach dem Tod Stalins 1953 hat Chruschtschow die »Tauwetter«-Periode eingeleitet, und mit der Entstalinisierung den geplanten Sieg über den Kapitalismus auch mit einer radikalen technologischen Modernisierung verbunden. Er erklärte die auch ökonomisch aufwendige stalinistische Architektur für beendet und versprach 1955, das Wohnungsdefizit innerhalb von 20 Jahren auszugleichen. Das sollte mit dem Camus- System erfolgen, dem Fertigteilsystem in Großtafelbauweise aus Frankreich.
Chruschtschow setzte auf die Technokratie des Bauwesens, 90 Prozent sollten Typenentwürfe sein, architektonische Experimente und Individualitäten waren untersagt. Doch der Fortschritt bekam eine neue kulturpolitische Dimension. Der »Sputnik-Schock« von 1957 und Juri Gagarins Weltraumflug von 1961 bewiesen der westlichen Welt eine unbedingte Zukunftshoffnung und den festen Glauben der UdSSR, die USA als führende Weltmacht überflügeln zu können.
So war es möglich, dass 1959 die große »American National Exhibition« in Moskau stattfand, wofür der Architekt Andre Geller für Raymond Loewys Designfirma das »typical American House« entwarf. Dies führte zur legendären, sowohl im amerikanischen als auch im sowjetischen Fernsehen gesendeten »Kitchen-Debate«, bei der Nixon den American Way of Life mit allen konsumistischen Ausstattungen und Haushaltsgeräten propagierte und Chruschtschow auf die damals führende Raumfahrt-Technologie und Schwerindustrie verwies. Nur eine Anekdote am Rande des Kalten Kriegs, aber doch signifikant für die sowjetischen Modernisierungsziele dieser Epoche.
Ein Fortschritt von der reinen Technokratie zu einer Öffnung der architektonischen Kultur vollzog sich in den 1960er Jahren mit der Machtübernahme durch Leonid Breschnew. Es begann das »Goldene Zeitalter der Stagnation « (Wiktor Kozlov). Viele Kenner des sowjetischen Politsystems sahen in dieser Zeit den Beginn der Auflösung der Sowjetunion. Der Regimekritiker Andrej Amalrik formulierte 1969: »Es wäre angemessener, den Prozess wachsender Zunahme an Freizügigkeit als Verfallsprozess des Regimes zu begreifen.« Aber dies führte auch zu einer architektonischen Befreiung von zentralistischen Planungsvorgaben, die vor allem von den auch wirtschaftlich erstarkenden Sowjetrepubliken genutzt wurde.
Das bringt uns zu der Frage der kulturellen und architektonischen Identitäten der Sowjetrepubliken. Zunächst sei festgehalten, dass Russland entgegen der vorherrschenden Meinung immer ein Vielvölkerstaat war. Die Vorherrschaft der Russen hängt mit dem Fall Konstantinopels und der folgenden Vorherrschaft Moskaus innerhalb der orthodoxen Kirche zusammen. Dennoch versammelten sich bereits im zaristischen Russland über 100 Völker mit unterschiedlichen Lebensformen und Religionen.
Als nach der Oktoberrevolution 1917 und dem russischen Bürgerkrieg Lenin 1922 die Sozialistische Föderative Sowjetrepublik etablierte, umfasste diese auch die Länder des Zarenreichs. Die meisten Sowjetrepubliken sind nicht historisch gewachsen, sondern wurden von der Sowjetunion geschaffen. Stalins Verfassung von 1936 umfasste 11 Sowjetrepubliken: Russland, Ukraine, Weißrussland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kasachstan und Kirgisien. Die baltischen Staaten wurden erst 1918 unabhängig und 1940 der Sowjetunion zwangseingegliedert, weshalb sie am Ende der Sowjetunion als erste wieder nach Selbstständigkeit verlangten.
So entdeckt man in den 14 Republiken mit ihrer enormen geographischen Ausdehnung von Skandinavien bis Asien ihre jeweils eigenen Geschichten und Traditionen, die sich mit der Vielfalt der Architekturen kapitalistischer Staaten dieser Zeit durchaus in Beziehung setzen lässt. Denn selbst im zentralistischen politischen System der Sowjetunion haben deren »Randrepubliken« differenzierte Architekturen herausgebildet. Dies konnte sich nur vor dem Hintergrund eines gewaltigen Urbanisierungsprozesses vollziehen, denn zur Zeit der Revolution lebten nur 18 % der sowjetischen Bevölkerung in Städten, am Ende der 1970er Jahre bereits zwei Drittel.
Während sich die Baltischen Länder auch im anhaltenden und geduldeten politischen Widerstand gegen die Okkupation der Sowjetunion erkennbar stark an der Architektur des Nachbarn Skandinavien orientierten, hatten Weißrussland, die Ukraine und Moldawien kein Problem mit dem kulturellen Anschluss an die Architektur Russlands. Gänzlich anders entstanden im Kaukasus, an der südlichen Grenze Russlands, starke, auf eine reiche Tradition gegründete regionale Identitäten. Als nationale Konstruktionen kann man hingegen die Architekturen der zum Teil neu geschaffenen Republiken Zentralasiens bezeichnen, die einen eigenen modernistisch-nationalistischen Stil entwickelten.
Kommunistische Architektur, so die Wahrnehmung bis heute, war technokratisch und ohne jeden ästhetischen Anspruch – ohne selbstständige ArchitektInnen, gelenkt von staatlichen Planungsfirmen. Und die Ideologie des Kalten Krieges proklamierte zwei strikt getrennte Welten: den kapitalistischen Westen mit freiem Informations- und Warenverkehr, und den kommunistischen Osten, isoliert und ohne Zugang zu Erkenntnissen und Entwicklungen der Architektur des Kapitalismus.
Ein großes Vorurteil der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Denn die wichtigen ArchitektInnen der Sowjetunion hatten auch in der Zeit des Kalten Kriegs genaue Kenntnisse über die Entwicklungen der Architektur im Westen. Es gab – meist dem KGB unterstellte – Bibliotheken mit allen Informationen über die westliche Architekturentwicklung, japanische oder französische Architekturzeitschriften, eine russische Ausgabe von »L‘architecture d’aujourd’hui«. Es gab Auslandsaufenthalte von sowjetischen ArchitektInnen, die auch in westlichen Ateliers arbeiteten. Es gab internationale Kooperationen von Forschungsinstituten und Vorträge bedeutender West-ArchitektInnen. Jedenfalls war der Informationsfluss evident. Dies erlaubt sogar die provokante Frage, wie viele ArchitektInnen aus westlichen Ländern damals, als Exkursionen und Architekturpublikationen noch Seltenheitswert hatten, über die globale Entwicklung der Architektur ihrer Hemisphäre tatsächlich informiert waren. Vergleichbar sind auch die Bauaufgaben der Nachkriegszeit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Zwar war der Bedarf an Wohnraum und Infrastruktur in der Sowjetunion ungleich größer als im Westen, aber öffentliche Investitionen in Bauten für Bildung, Kultur, Sport und Politik wurden von den politischen Institutionen gleichermaßen verlangt und gefördert. Hier gleichen sich die Aufgaben, auch wenn im Westen dem Bau von Kirchen im Osten durch kommunistische Hochzeitspaläste entsprochen wurde. Repräsentationsbauten mit architektonischem Anspruch in den Sowjetrepubliken lassen uns deshalb auch einen neuen Blick auf dieselben Bauaufgaben im Westen werfen, und überall stehen dahinter engagierte Lokalpolitiker als Auftraggeber.
Wir erkennen seit einigen Jahren ein neuartiges Interesse von HistorikerInnen und ArchitektInnen am von der Postmoderne verfemten »Bauwirtschaftsfunktionalismus« der Nachkriegszeit und entdecken heute dessen konzeptive, konstruktive und skulpturale Qualitäten. Wir sehen in diesen Leistungen die Zeit des Aufbruchs in die umfassende Verantwortlichkeit des Wohlfahrtsstaates vor dem Hintergrund einer homogenen Gesellschaft, für die Modernität einen konsensualen Wert verkörperte. Staat und Kommunen, die öffentliche Hand, waren der wichtigste Auftraggeber architektonischer Repräsentation, und nicht die Marktkräfte neoliberaler Investoren. Das Thema der Zeit war: Die große Form für die große Zahl, das Experiment in räumlicher und konstruktiver Dimension – im Westen wie im Osten. Doch die Stilbezeichnung für die Nachkriegsmoderne ist noch nicht gefunden. »Brutalismus« als Begriff, das zeigen die Ergebnisse jüngster Forschungen und Konferenzen, greift zu kurz und umfasst gleichzeitig zu viele verschiedene Ansätze. Bemerkenswert aber ist, dass nach Faschismus und Stalinismus im Westen wie im Osten die Wurzeln der Vorkriegsmoderne, teilweise sogar in der personellen Kontinuität von ArchitektInnenbiographien, wieder aufgenommen wurden.
Das Architekturzentrum Wien hat sich aufgrund seiner geopolitischen Lage die Entdeckung und Vermittlung der osteuropäischen kommunistischen Architektur des 20. Jahrhunderts zu einer zentralen Aufgabe gemacht. Als »Tor zum Westen« haben wir uns in den letzten Jahren intensiv mit der Architektur Südost-Europas, der Architektur des Balkans beschäftigt. Das Projekt Sowjetmoderne erweitert diesen Radius und entwickelte sich zu einem großen Forschungsprojekt, das sich im Aufbau einer Projektdatenbank und einer themenbezogenen Bibliothek manifestiert. Die Arbeit des Architekturzentrum Wien versucht insbesondere, die seit dem Zerfall der UdSSR verkarsteten Kommunikationsstrukturen zu beleben und ArchitektInnen und ExpertInnen zu vernetzen. Noch leben viele der ProtagonistInnen, StadtplanerInnen und ZeitzeugInnen, deren Geschichten kaum geschrieben und deren Werke noch nicht kontextualisiert wurden.
Die Zeit drängt, denn nicht nur in den ehemaligen kommunistischen Ländern, auch in Westeuropa besteht dringender Handlungsbedarf. Viele der Bauten, deren architektonischer und kulturhistorischer Wert noch nicht allgemein erkannt wird, sind gefährdet. Zum einen lässt die mangelhafte Bautechnologie ihrer Entstehungszeit die Objekte überschnell altern, zum anderen fehlen die Ressourcen zur Instandhaltung. In den boomenden Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR hingegen werden diese Bauten renoviert und modernisiert, verschwinden dabei unter den Schminkmasken zeitgenössischer Developer- Architektur. Auch sind in den jungen postkommunistischen Republiken die Bauten des »Sowjetischen Imperiums« als Zeichen einer überwundenen und zu verdrängenden Epoche besonders gefährdet. Es ist Zeit, ihnen endlich die entsprechende Wertschätzung und Würdigung zu erweisen. Wir sind überzeugt, mit der Erforschung der Sowjetmoderne einen wichtigen Beitrag dazu geleistet zu haben. Damit die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts neu geschrieben werden kann ...
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